Vom
polnischen Kriegsschauplatz
An
der Weichsel, Ende März.
Vom Fesselballon aus, mit dem ich ein paar hundert Meter hoch aufsteigen
durfte, um das Kampfgebiet auch einmal von oben kennen zu lernen, hatte
man einen wunderschönen Blick. Unter uns lag das fruchtbare Ackerland
Kujaviens, viele Felder setzten schon Grün an, die Wintersaat, die
noch die polnischen Besitzer eingesetzt hatten, begann unter der wärmenden
Sonne zu sprossen. Kleine Wälder und Teiche belebten das Bild. Aber
gerade unter uns starrten auch die roten Mauern eines großen Bauernhauses
kahl und trostlos in die Luft und ringsherum zogen sich hinter einander
in vier oder fünf Ketten die Anlagen der russischen Schützengräben.
Ein Hauptbollwerk des Feindes war hier tapfer verteidigt worden, die zahllosen
kleinen und größeren Löcher, in denen sich inzwischen
Wasser angesammelt hatte, zeigten, wie stark der Stützpunkt mit Granaten
überschüttet worden war, ehe er im Sturm genommen werden konnte.
Dann schweifte der Blick weiter über den gelben Sand der Weichseldünen,
an dunklen Kiefernwäldern vorbei, aus denen helle Birkenstämme
heraus leuchteten, über unsere Schützengräben und Stellungen
hinweg zur Weichsel. Jenseits lag der Feind und die Schrapnellwölkchen
in der Luft zeigten, daß ein starkes Artilleriegefecht im Gange
war. Vielleicht galt es Wyszogrod, dem kleinen Städchen, das einst
am andern Weichselufer lag, gegenüber dem Einflusse der Bzura. Vielleicht
wollte die Artillerie auch die vielen Fesselballons zudecken, die auf
Freundes- und Feindesseiten den Himmel bevölkerten. Drüben in
der Gegend der Bzura lag leichter Dunst und alles schien ruhig. Da sah
man nur die zerschossenen Kirchtürme des Dörfchens Brochow,
wo Chopin seinen Trauermarsch komponiert haben soll, und weiter unten
lag der wirre Trümmerhaufen, der einst Sochaczew hieß.
Da vorn liegen nun unsere Stellungen, die jetzt so ausgebaut sind, daß
kein Feind mehr an eine erfolgreiche Berennung denken kann. Zwar ist es
außerordentlich schwer, in dem Flugsand der Weichseldünen zu
arbeiten. Ein einziger Sturm verweht die Arbeit langer Tage und besonders
die Horchposten werden dadurch gefährdet, die des Nachts in Laufgräben
vorgehen.
Die Praxis hat die Leute erfinderisch gemacht. Von jedem Horchposten laufen
höchst einfache Drahtleitungen zurück; zieht der vorgeschobene
Mann vorn an der Klingel, so weckt der Klöppel in einer leeren Konservenbüchse
im Schützengraben die Mannschaft, die mit Gewehr, Schaufel und Spaten
zu Hilfe eilt. Der Infanterie sind jetzt überall Pioniere zugeteilt,
die sachverständige Anleitungen zum Versteifen der Gräben geben
und die Infanterie langsam zu Schützengrabentechnikern ausbilden.
Man liegt hier stellenweise dem Feind in kaum 60 Meter Entfernung gegenüber.
Die Drahtverhaue, in klaren Nächten, sind mit bloßem Auge zu
erkennen und so ist es kein Wunder, wenn nachts und sobald am Tage auch
nur ein Kopf sich an der Schießscharte zeigt, sofort mit Erfolg
von beiden Seiten geknallt wird. Aber trotz alledem haben die Leute ihren
Wagemut nicht verloren. Als man vor einigen Tagen eine Wildgans im Fluge
herunterschoß und das Tier vor den feindlichen Drahtverhauen niederging,
wurde sie herüber geholt und nun prangt sie ausgestopft in voller
Schönheit am "Wirtshaus zur goldenen Gans" als Aushängeschild.
Und als jüngst einer unserer Flieger wegen eines Motordefektes landen
wollte und in der Abenddämmerung zwischen den feindlichen Schützengräben
niederging, da holten unsere Leute trotz des Kugelregens den fast unbeschädigten
Apparat zurück und zerstörten dabei sogar noch feindliche Drahtverhaue.
Die Zeit der Stellungskämpfe wird gut ausgenützt und das Bild,
das sich hinter der Front bietet, ist oft überraschend friedensmäßig.
Da wird auf den Feldern von den aus dem Schützengraben abgelösten
Mannschaften fleißig exerziert, man macht große Übungsmärsche,
um die Glieder geschmeidig zu erhalten und den neuen Ersatz langsam zu
den Marschleistungen der alten Mannschaften zu erziehen, die man benötigt,
wenn es wieder einmal stramm vorangeht. Die Reiterei hat die Pferde zu
bewegen, damit sie nicht einrosten, und die Pioniere beschäftigen
sich mit allerhand Neuerungen und Vorbereitungen. Auch bei den Stäben
wächst mit der Ruhe die Arbeitslast, weil, wenn militärisch
nichts los ist, bürokratisch um so mehr verlangt wird.
Nun wird die Ruhe auch von allen Truppenteilen dazu benutzt, die Quartiere
erheblich zu verbessern. Überall entstehen in den Wäldern und
Ortschaften große, geräumige Blockhütten. Es ist ein edler
Wetteifer groß geworden, sich an Leistungen zu überbieten.
Da bauen sich die Artilleristen auf ihren luftigen Beobachtungsstand vor
ihre Blockhütte aus Birkenholzkästen einen kleinen Aussichtspunkt
mit Tisch und Bänken und einer Warnungstafel für den Feind:
Über allen Wipfeln ist Ruh. Der Künstler der Batterie hat aus
Schrapnellkugeln, die herum liegen wie tote Fliegen, ein pro gloria et
patria in den Sand als Mosaik gelegt. Die Pioniere sind natürlich
allen anderen an Geräumigkeit und Festigkeit ihrer Hütten voraus
und ihrem Hauptmann haben sie einen Schreibtisch mit Tintenzeug und Tischtelephon
gezimmert. Aber auch für die Kranken und Verwundeten haben sie brav
gesorgt und haben aus Birkenholz und geflochtenem Stroh eine Liegehalle
für das Lazarett gebaut. Die Infanteristen aber haben unter sich
einen Gärtner der königlichen Schlösser aus Potsdam und
sie schießen daher an gärtnerisch-künstlerischen Leistungen
den Vogel ab.
Die Sanitäter suchen mit ihren Hunden das ganze Land nach Gräbern
ab und pflegen die verfallenen und verwilderten Ruhestätten der toten
Kameraden. Überall schafft man jetzt feste neue Holzkreuze mit großen,
sauberen Inschriften und baut große, weite Friedhofsanlagen mit
Steinmauern und Denkmälern. Jedes Grab bekommt sorgsam über
den Sand die feste Decke grasbestandener Erde. Für den Geist der
Kameradschaftlichkeit und des Zusammenhaltens in der Truppe legen gerade
diese Friedhöfe mit den rührenden Inschriften ein beredtes Zeugnis
ab.
Überall in den Dörfern werden die Straßen hergerichtet
und unter dichten Krusten von Schlamm und Schmutz kommt manchmal ein Straßenpflaster
zum Vorschein, das den ältesten Ortseinwohnern etwas ganz Neues zu
sein scheint. Die polnischen Bauernhäuser werden mit Vorgärten
und Einfassungen aus Birkenästen umgeben. Bänke und Tische werden
davor aufgestellt, alte Findlingsblöcke werden herangewälzt
und weiß gekalkt, kurz alles bekommt einen Anstrich von deutscher
Ordnung und Gemütlichkeit. Die Vorgärten werden alle bestellt;
die Armee-Intendantur hat für ihre Truppen schon aus der Heimat Gemüsesamen
bestellt. Wenn der Stellungskampf noch lange dauert, wird sich die Truppe
bald allein verpflegen können. Man ist in ganz großem Maßstabe
auch daran gegangen, die brachliegenden Felder der Polen umzugraben, durchzupflügen,
zu düngen und zu bestellen. Nicht alle Ländereien können
nutzbar gemacht werden, aber es wird doch bei jeder Division unter Leitung
eines landwirtschaftlich vorgebildeten Offiziers getan, was mit den verfügbaren
Kräften nur irgendwie getan werden kann. Sollte es einmal weiter
gehen, so werden andere die Früchte dieser Arbeit ernten, die ja
dem ganzen Vaterlande zu Gute kommen sollen.
Auch die Ärzte sind nicht untätig geblieben. Ich sah in einer
alten Zuckerfabrik Anlagen für Offiziers- und Mannschafts-Brause-
und Wannen-Bäder, die täglich von Hunderten von Gästen
besucht wurden. Im oberen Stockwerke gab es eine Dampfwäscherei und
-Trocknerei, die in 24 Stunden selbst die größten Mengen Wäsche
erledigen kann, in ganz eiligen Fällen aber anstatt der zurückgegebenen
schmutzigen Wäsche sofort neue oder gereinigte Wäschestücke
aushändigt. Eine Flickanstalt ist mit der Wäscherei verbunden
und sogar eine besondere Reinigungsanstalt für leere Säcke.
Es ist fast selbstverständlich, daß alle Speisereste und Materialien
von Kupfer und Blech sorgfältig gesammelt werden und daß auch
nicht das geringste dem Auge des liebenswürdig - gestrengen Ortskommandanten
entgeht Da werden Wagen repariert, Räder neu gefertigt, es gibt eine
Schreinerei und eine Schmiede, kurz die Fabrik ist zu einem einzigen großen
Arbeitsraum für alle nur denkbaren Betriebe geworden In ihrem einstigen
chemischen Laboratorium hat sich jetzt eine ärztliche Untersuchungsanstalt
niedergelassen. Dadurch wird viel kostbare Zeit gespart und es ist kein
Wunder, daß die betreffende Division in der Gesundheitsstatistik
des Heeres am zweitbesten dasteht. Das Gewaltigste an Fabrikbetrieb ist
die "elektrische Entlausungsanstalt". Die Patienten kommen in
einen schönen warmen Raum, wo man sie auszieht und gründlich
mit Schmierseife einreibt. In diesem Zustande dürfen sie zwei Stunden
warten, während ihre Kleider und Wäsche in einem elektrischen
Lichtbade von etwa 110 Grad Wärme von Läusen und deren Brut
befreit werden. Dann bekommt man ein Brausebad und die ganze Sache ist
mit etwas Naphthalin zur Prophylaxe erledigt. Diese Anstalt befreit täglich
ungefähr 250 Mann von ihren Peinigern; sie hat im ganzen schon etwa
10000 Menschen, wenigstens auf kurze Zeit, glücklich gemacht. Pessimisten
behaupten zwar, die ganze Anstalt nütze nichts, weil man nach acht
Tagen eben wieder andere Läuse habe und Polen selbst Hunderten von
Entlausungsanstalten trotze. Aber die Mehrzahl steht doch auf dem Standpunkt
der Optimisten, die da sagen, acht läusefreie Tage seien eine vollwertige
Leistung für das Opfer eines zweistündigen Bades und die Zuversicht,
sie wieder loszuwerden, lasse für einige Tage das Übel leichter
ertragen.
Im übrigen beeinträchtigt das Ungeziefer die Stimmung der Mannschaften
viel weniger als man denkt. Beim Stabe einer Division hat man eine Musikkapelle,
bestehend aus einem Dirigenten, der den Flügel meistert, einem Trommler,
einem Trompeter, der auf dem berühmten Kamm mit dem Seidenpapier
spielt, und einen Mann, der das folgende neue Instrument spielt: eine
riesige leere Konservenbüchse wird an einem langen Stock montiert
und über sie weg wird eine Drahtsaite gezogen Das Instrument wird
einfach im Takt auf den Boden aufgestoßen, die Saite wird mit einem
Prügel bearbeitet und das Ganze ist ein Radauinstrument von vorzüglicher
Beschaffenheit. Derartige Kapellen, verstärkt durch Mundharmonikas
und Flöten, kennt man in jedem Unterstand, in jeder Mannschaftsstube
und das vertreibt die Zeit schneller, als man denkt Und wenn man nichts
Besseres zu tun hat, wird da einfach nach Hause geschrieben. Die Division
sandte in einem Monat etwa 420000 Mark in über 15000 Postanweisungen
nach Hause, neben 22 000 Briefen und 2000 Paketchen im Tagesdurchschnitt,
wofür man 12000 Päckchen und 3000 Briefsendungen aus der Heimat
zur Verteilung an die Regimenter erhielt. Und da alles prompt von der
Feldpost bearbeitet wird, ist die Stimmung lustig und fidel.
Dr. Fritz Wertheimer,
Kriegsberichterstatter. 2)
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