Grey
über den Ursprung des Krieges
Sir Edward Grey
London,
23. März. (W. B.)
Staatssekretär Grey sagte in einer Rede über den Ursprung
des Krieges:
Der Krieg hätte durch eine einfache Konferenz unter den Großmächten
verhindert werden können, wenn Deutschland zugestimmt hätte.
Frankreich, Italien und Rußland hätten sich im Juli 1914 bereit
erklärt, die Konferenz anzunehmen, und nachdem England einen Vorschlag
dazu gemacht hatte, schlug man dem Zaren und dem Deutschen Kaiser vor,
daß der Streit an das Haager Schiedsgericht verwiesen werden sollte.
Aber Deutschland habe jeden Vorschlag abgelehnt, den Streit auf solche
Weise zu schlichten. Daher ruhe die Verantwortung, Europa in diesen Krieg
gestürzt zu haben, allezeit bei Deutschland. Der Streit zwischen
Österreich und Serbien, den Deutschland als Gelegenheit zum Kriege
benutzte, war viel leichter zu schlichten als zwei Jahre früher die
Balkankrise, die mit gutem Erfolg überwunden wurde. Deutschland habe
aus seinen Erfahrungen mit der Londoner Konferenz gewusst, daß es
auf guten Willen für den Frieden auf jeder Konferenz rechnen konnte.
Wir suchten in der Londoner Konferenz keinen diplomatischen Triumph, intrigierten
nicht und arbeiteten unparteiisch und ehrenhaft für den Frieden.
Wir waren im Juli bereit, das wieder zu tun. Wir gaben in den letzten
Jahren Deutschland wiederholt die Versicherung, daß kein Angriff
auf das Deutsche Reich von unserer Seite Unterstützung erhalten würde,
wir lehnten nur das unbedingte Versprechen ab, neutral zu bleiben, wie
aggressiv auch immer Deutschland sich gegen seine Nachbarn verhalten würde.
Wir wissen jetzt, daß Deutschland sich so sehr auf den Krieg vorbereitete,
wie nur ein Volk es tut, das den Krieg will. Dieses ist das vierte Mal
in der Erinnerung des noch lebenden Geschlechtes, daß Preußen
in Europa Krieg führt. Wir wissen urkundlich, daß Preußen
in den Jahren 1864, 1866 und 1870 den Krieg gewollt habe. Dasselbe geschah
jetzt, und wir sind entschlossen, daß es das letzte Mal sein soll.
Grey fuhr fort, er habe längst vor dem Kriege Belgien versprochen,
daß England niemals seine Neutralität verletzen würde,
so lange sie von anderen respektiert bliebe. Wenn Deutschland in Belgien
einrückte, so waren wir verpflichtet, dem mit allen unseren Kräften
entgegenzutreten. Wenn wir das nicht im ersten Augenblick getan hätten,
glaubte jemand heute noch, daß, wie Deutschland Belgien angriff,
die Zivilbevölkerung niederschoß und das Land verwüstete
in einer Art, die alle Regeln der Kriegsgebräuche und der Humanität
verletzte, glaubte da jemand, daß wir hätten stillsitzen und
zuschauen können ohne ewige Schande. Eine wesentliche Friedensbedingung
muß die Wiederherstellung des unabhängigen, nationalen Lebens
und der freie Besitz seines Gebietes für Belgien sein und, soweit
möglich, eine Entschädigung für das ihm geschehene grausame
Unrecht. Die große Idee, für die die Alliierten kämpfen,
ist die, daß die Nationen Europas ihr eigenes unabhängiges
Leben führen und die eigenen Regierungsformen und die nationale Entwicklung
in voller Freiheit ausbilden können, gleichviel ob es große
oder kleine Nationen sind. Wir lernten seit Beginn des Krieges von deutschen
Professoren und Publizisten das deutsche Ideal kennen. Es ist dieses,
daß die Deutschen ein überlegenes Volk sind, dem alles erlaubt
ist, was zur Macht führt, und gegen das jeder Widerstand Unrecht
ist. Die Deutschen erstreben die Herrschaft über die Nationen des
Kontinents, diesen nicht Freiheit, sondern Dienstbarkeit bringend. Grey
schloß, er selbst wolle lieber umkommen oder den Kontinent verlassen,
als unter solchen Bedingungen leben.
Die "Frankfurter Zeitung" bemerkt dazu:
"Sir Edward Grey verschweigt, daß es sich während
der Balkankrisis um eine Konferenz handelte, die bezweckte, die Interessen
der verschiedenen Großmächte an der endgültigen Regelung
der Verhältnisse auf dem Balkan auszugleichen. Der Streitfall zwischen
Österreich-Ungarn und Serbien betraf nur zwei bestimmte Staaten.
Die Entscheidung dieses Streites einer Konferenz von Mächten zu übertragen,
die in keiner Weise daran beteiligt waren, wäre mit der Würde
einer Großmacht nicht vereinbar gewesen. Es hätte lediglich
Rußland die Zeit gegeben, durch Mobilisierung seiner ungeheuren
Armeen die Freiheit der Entschließungen der Konferenz illusorisch
zu machen. Welche Macht sich in jeder Weise auf den Krieg vorbereitet
hat, das ergeben die von der englischen Regierung stets geleugneten geheimen
politischen und militärischen Abmachungen mit Rußland, Frankreich
und Belgien. Daß nicht die Rücksichtnahme auf Belgien, dessen
Unabhängigkeit und Integrität durch die bekannten Erklärungen
Deutschlands gesichert war, Englands Beteiligung am Kriege bedingt hat,
hat selbst die "Times" in einem plötzlichen Anfall von
Wahrheitsliebe unlängst zugegeben. Welches Land die Freiheit der
kleinen Völker tatsächlich bedroht, das zeigt die ganze Geschichte
des englischen Kolonialreiches sowie der Gebrauch, den England von den
gewaltigen Mitteln seiner Flotte in dem gegenwärtigen Kriege machte.
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