Die russische Märzoffensive 1916 

 

Bericht aus dem deutschen Großen Hauptquartier vom 9. Juni 1916

 


v. Hindenburg

v. Eichhorn

v. Scholtz

Die Winterruhe des Stellungskrieges an der deutschen Ostfront wurde am 16. März jäh und plötzlich unterbrochen. Zu dem von unserer Heeresleitung erwarteten Zeitpunkt und mit gleichfalls erwarteter Kraftanstrengung setzte die russische Offensive ein. Eine Offensive: in ihrem Eintritt seit langem kenntlich, in ihrer Endwirkung vorauszusehen und erwünscht. Die ersten sicheren Anzeichen des bald bevorstehenden Angriffes wurden Ende Februar 1916 bemerkbar. Gefangene sprachen von der Absicht eines großen Angriffes auf "Wilna". Die Ruhe in den russischen Gräben machte einer lebhaften Tätigkeit Platz; Truppenverschiebungen an und hinter der Front ließen auch bald die beabsichtigten Einbruchsstellen erkennen.
Man mag diese Offensive als "Entlastungsoffensive" für die französische Verdunfront bewerten oder als selbständige strategische Handlung beurteilen - zwei Tatsachen stehen unverrückbar fest: das große Endziel der russischen Heeresleitung und die unerschütterliche Zuversicht der deutschen Führung im Festhalten der Eisernen Mauer im Osten. Alle Versuche des Gegners, nach dem Fehlschlagen seiner Hoffnungen das ursprünglich beabsichtigte Ausmaß zu verkleinern, können nicht standhalten vor der Beweiskraft der feindlichen Heeresbefehle zur Einleitung des Angriffes, dessen Endzweck die Vertreibung der deutschen Heere aus dem besetzten Gebiet war:
"Truppen der Westfront! . . . Seine Majestät und die Heimat erwarten von Euch jetzt eine neue Heldentat: die Vertreibung des Feindes aus den Grenzen des Reiches . . ." (Befehl des Höchstkommandierenden der Westfront vom 4./17. III.16, Nr. 537.)
Ferner: "Der Führer der Armee hat mir während seines Besuches der Truppen der mir unterstellten Korps befohlen, allen Truppen seinen Gruß zu übermitteln. Gleichzeitig sprach er die Hoffnung aus, daß alle heldenmütigen Truppen . . . ihre Pflicht bis zum Äußersten erfüllen und den Feind besiegen werden. Ich bin froh, diese gnädigen Worte unseres Führers bekannt zu geben, und kann meinerseits nur bestätigen, daß die glorreichen Traditionen der Korps volle Gewißheit bieten, daß in der eingetretenen entscheidenden Stunde des Kampfes mit einem starken Feind alle Offiziere und Mannschaften beweisen werden, daß sie treue Söhne unserer teuren Heimat sind und lieber sterben, als unser russisches Land beschämen werden. Mit Gott für Zar und Rußland !"
(Befehl an die Truppen des Generals Balujew vom 3./16. III. 16.)
Also eine allgemeine Offensive mit dem Ziel: Befreiung der besetzten Gebiete.
Im Einklang mit der Aufgabe standen die Mittel der Vorbereitung. Alle Maßnahmen für den entscheidenden Angriff waren bis in die Einzelheiten seit langer Zeit durchdacht und vorbereitet. Allerdings mutet es den deutschen Soldaten sonderbar an, wenn ein Befehl Selbstverständlichkeiten verlangt: "Die Infanterie hat die Gewehre, Maschinengewehre, Bomben- und Minenwerfer instandzusetzen, - die Artillerie die Geschütze und das gesamte Material."
Nur ein Glied fehlte in der Kette der russischen Vorbereitungen: das Glied, seit Tannenberg und der Winterschlacht in Masuren endgültig herausgerissen aus der russischen Armee: der Siegerwille und das Siegesbewußtsein der Truppe.
Noch einmal versuchte die russische Heeresleitung die Herbeiführung der Entscheidung. Der Armeebefehl des Generals Evert, Höchstkommandierenden der Westfront, läßt darüber gar keinen Zweifel. Klar und deutlich wird als "Durchbruchsziel" Wilna und die Bahnlinie Wilna-Dünaburg bezeichnet. Kerntruppen werden gegen die Einbruchsstellen bereitgestellt. Zu einheitlicher Handlung werden überlegene Kräfte angesetzt. Gleichzeitig sollen die Einbruchsstellen durch das Gewicht einer einheitlichen, erdrückenden Masse durchstoßen werden.
Eingehend werden Truppen und Stäbe über ihre Aufgaben unterwiesen. "Nach Einnahme der Gräben des Gegners dürfen sich die Angreifenden nicht aufhalten lassen. Der Durchbruch verträgt keine Unterbrechung." Nr. 6 desselben Befehles besagt: "Die Artillerie hat alle Maßregeln zu treffen, damit das Schießen auf eigene Truppen vermieden wird. Hierin liegt die ganze Stärke der Zusammenwirkung der Infanterie mit der Artillerie." Ein eigenartiges Eingeständnis taktischer Zusammenarbeit und der Auffassung vom Wesen des Kampfes beider Waffen. Eigenartig besonders deshalb, weil die folgende Nr. 7 des Befehls von der Artillerie gewisse Vorbereitungen zum Feuer auf die eigene Infanterie geradezu verlangt: "Den Truppen ist einzuprägen, daß die Reserven und die Artillerie auf sie das Feuer eröffnen werden, falls die Angreifenden versuchen, sich gefangen zu geben."
Der Offensivplan war groß und einfach gedacht: Eine Zange mit rechtem Flügel etwa in Gegend Jakobstadt, mit linkem an der Beresina. Unwiderstehlicher Durchbruch in der Mitte beiderseits des Naroczsees. Aufrollen der deutschen Front nach Nordwesten und Südwesten. Die Befehle waren gegeben, die "Tintenfässer geschlossen". Nun sollte Blut fließen und den Durchbruch in einer Entscheidungsschlacht erzwingen.
Die Stellen, die als Durchbruchspunkte den Hebel zur Aufrollung der deutschen Front bilden sollten, waren: die Front zwischen Wiszniew- und Naroczsee sowie die Gegend Postawy - Wileity. Gegen die Durchbruchsfront zwischen Beresina und Disna wurden bis Mitte März 1916 sehr starke Kräfte herangeführt und zum Angriff bereitgestellt. Zwei Armeekorps schoben sich näher nach Norden an Smorgon heran. Gegen die Seenenge wurde eine starke Stoßtruppe unter General Balujew angesetzt (V., XXXVI., III. sibirisches Korps und eine Ural-Kosakendivision). Zum Durchbruch im ungefähren Abschnitt Mosheiki - Wileity war eine Armeeabteilung unter General Pleschkow bestimmt (I., I. sibirisches, XXVII. Korps und VII. Kavalleriekorps). So schien ein planmäßiger, einheitlicher Angriff gegen die Durchbruchsstellen gewährleistet. Nach französischem Muster fehlte es also nicht an Kavalleriemassen, die nach gelungenem Durchbruch sofort das Gebiet unserer rückwärtigen Verbindungen überschwemmen und Verwirrung hinter die deutsche Front tragen sollten. Ihrer harrte auch der ehrenvolle Befehl rastloser Verfolgung der fliehenden deutschen Heere. Es kam aber nur ein Teil der Kosakenhorden zur Verwendung: nicht zu rühmlicher Verfolgung, sondern in der schmachvollen Aufgabe, die Sturmtruppen mit der Nagaika zum Vorgehen zu peitschen.
Der 16. und 17. März brachte volle Klarheit über die russischen Absichten. Die Durchbruchsstellen bei Postawy und südlich des Naroczsees wurden mit starkem Artilleriefeuer belegt, das sich allmählich erheblich steigerte.
Auf die Front der beiden Stoßgruppen waren angeblich 800 bis 1000 Geschütze, darunter schwerste Kaliber, verteilt. Ungeheure Munitionsmassen waren bereitgelegt. Die deutschen Stellungen sollten eingeebnet werden. Den Sturmtruppen hatte man angenehme Phantasiebilder entwickelt: Die Artillerie würde die ganze Arbeit allein leisten. Ein fast mühe- und gefahrloser Spaziergang gegen die deutschen Stellungen würde den Sieg bringen. Gleichwohl hielt man es für nötig, der Infanterie eine Schilderung von den entsetzlichen Martern und Qualen auszumalen, die ihrer bei etwaiger Gefangennahme harrten.
Während nun die Klauen der "Zange" zwar drohten, aber nicht zum Zupacken kamen, ergoß sich die Woge der Angriffsinfanterie in fast unversiegbarem Strom gegen die Durchbruchsstellen. Bereits der 18. März zeigt einen gewissen Höhepunkt des Angriffs beider Stoßgruppen. Je drei Armeekorps drücken gleichzeitig und im operativen Zusammenarbeiten gegen die Front Postawy - Wileity und gegen die Seenenge. Hier wurde später noch ein viertes Korps eingesetzt.
Nach ausgiebigem Artilleriefeuer tritt am 18. März die russische 25. Division aus Linie Iwanki-Spiagla zum Angriff in Richtung Baltaguzy an. Der vom Westufer des Wiszniewsees durch unsere schwere Artillerie wirksam flankierte Angriff bricht zusammen. Die abgeschlagene Division läßt 3000 Tote auf dem Angriffsfeld und rettet nur Trümmer. Von ihrem Regiment 98 kehren etwa 100, von einem anderen Regiment ungefähr 150 Leute zurück. Weiter östlich greift gleichzeitig zweimal die 7. Division, westlich am Nachmittag die 10. Division an. Trotz stärkster Feuervorbereitung scheitern alle diese Angriffe, wie auch die von etwa zwei Divisionen im nördlichen Abschnitt Mosheiki - Wileity, unter schwersten Verlusten. Ohne den geringsten Erfolg an irgendeiner Stelle verbluten die Angriffstruppen. Das Regiment 38 der 10. Division verliert an diesem Tage 1600 Mann. Ein erschütterndes und erhebendes Bild zugleich! Drüben die in tiefem Schlamm und Morast sich heranwälzenden Massen, getrieben durch Knutenhiebe und Rückenfeuer. Hier die Eiserne Mauer der Hindenburgarmee. Fest, starr in Stahl und Erz. Fester noch in dem Willen jedes einzelnen: auszuhalten selbst gegen erdrückende Übermacht. Hier sieht niemand ängstlich nach rückwärts, nach der Polizeitruppe hinter der Front. Sie fehlt. Aller Augen blicken nach vorn, und die Steine der Mauer sind die Soldatenherzen des Verteidigers.
Den 19. März benutzt der Gegner, seine zusammengeschmolzenen Massen aufzufüllen. Am 20. März versucht er den Durchbruch mit neuer Kraft. Während ein Angriff gegen Baltaguzy gänzlich mißglückt, unternimmt der Feind auch im nördlichen Abschnitt unerhörte Anstrengungen. Das ganze I. sibirische Korps, die 22. Division und Teile der 59. Division werden unbarmherzig viermal und jedesmal in vier bis fünf dichten Wellen vorgeworfen. Scheinangriffe der 10. sibirischen Division bei Lotwa beabsichtigen die deutsche Führung abzulenken, verfehlen aber ihren Zweck. Unter selbst für russische Verhältnisse ungeheueren Verlusten flutet der zerschmetterte Angriff der Stoßgruppe Pleschkow in seine alten Stellungen zurück.
Der 21. März bringt den Höhepunkt der Schlacht am Naroczsee. Die Krisis des Angriffs ist hereingebrochen. Jener Augenblick, da die Wagschale schwebt und unentschlossen schwankt zwischen Sieg oder Nachlassen der Kräfte des Verteidigers. Das Höchstmaß der beiderseitigen Anstrengungen ist aus das äußerste angespannt. In der Seenenge tobt der Kampf mit unverminderter Heftigkeit um Baltaguzy. Die russische 25. Division wird abgeschlagen und in ihrer Gefechtskraft völlig erschüttert. Aber der 10. Division gelingt es bei Blizniki, in das Gelände unserer Beobachtungsstellen und in Teile der vorderen Stellungen einzudringen. Hier geraten die russischen Regimenter in furchtbare Verwirrung. Offiziere sind nicht zur Stelle oder haben die Gewalt über die Truppe verloren. Hier wollen Kompanien weiterstoßen, dort wollen andere zurückweichen, wieder andere setzen sich fest, zufrieden mit dem Erreichten, wo sie gerade sind. Ein erbitterter Kampf tobt im Vorwerk Stachowce.
Gleichzeitig drücken und wälzen sich dicke Massen dreier Divisionen im Abschnitt Mosheiki - Wileity heran, gestützt und vorwärts geschoben durch heftiges Artilleriefeuer. An wenigen Stellen gelangen sie bis an oder in vordere Teile unserer Gräben. Kräftige Gegenangriffe werfen die Eingedrungenen sogleich wieder hinaus. Sieben Offiziere, 800 Mann bleiben gefangen in unserer Hand. Unter außergewöhnlichen Verlusten flüchtet der Angreifer. Die 22. Division rettet nur Trümmer aus dem Feuerbereich.
Nördlich Wileity mißglückt in ähnlicher Weise ein Angriff der 59. Division.
Hier im nördlichen Abschnitt zwingen die furchtbaren Verluste den Gegner am 22. März zur Ruhe und Erholungspause. In der Seenenge hat der kleine Teilerfolg bei Blizniki den Mut belebt und die Zuversicht gehoben. Hier also scheint der Sieg erreichbar. Nach stundenlanger Artillerievorbereitung am 22. März greifen nachmittags etwa vier Divisionen erneut an. Zwei Angriffe werden angesetzt. Zweimal in je vier dichten Wellen brechen die russischen Massen vor. Zweimal zerschellen diese Versuche restlos unter schwersten Verlusten. Allein die 8. sibirische Schützendivision verliert an Gefangenen 2000 Mann. Mit äußerster Heftigkeit wütet das Artilleriefeuer in der Nacht zum 23. März weiter. In den Morgenstunden bricht die verstärkte 8. sibirische Schützendivision noch zweimal zum Angriff vor. Die Angriffe scheiterten ebenso wie die folgenden Vorstöße am Abend.
In unerschütterlicher Ruhe halten die Truppen der 10. Armee. Heute in Eis und Schnee frierend und erstarrend, morgen in Tauwetter durchnäßt, im tiefen Schlamm und Brei der aufgeweichten, durch das heftige russische Feuer abgedeckten Gräben.
Musterhafte Arbeit leistet die Artillerie, Feldartillerie und schwere. Hier legt sie Sperrfeuer zwischen Hindernisse und Angreifer, dort vor seine nachrückenden Reserven. Hier flankiert sie wirksam, dort jagt sie den abgeschlagenen, zurückflutenden Angreifer in das Straffeuer seiner eigenen Maschinengewehre und Kanonen. Die Armee Eichhorn, der "Sturmbock gegen Kowno", der eiserne Besen, der die Tenne reinfegte zwischen Njemen und dem Seengebiet südlich Dünaburg, ist jetzt der "Prellbock", der Wall, auf dem russische, übermächtige Hammerschläge hier und dort zwar einen Steinsplitter abschlagen, aber nicht eine einzige Fuge lockern können.
Ebenso unerschütterlich wie die Front der 10. Armee erweist sich ihr linker Flügel und die anschließende Armeeabteilung Scholtz. Zwar wurde der Nordflügel der Armee Eichhorn von der vollen Wucht der russischen Offensive nur zum Teil gefaßt, aber auch diese Kämpfe zeigten Höchstleistungen auf beiden Seiten. Das Gelände des ehemaligen Dorfes Wileity war zu einem mehrere hundert Meter vor der Hauptstellung liegenden Stützpunkt ausgebaut. Von hier aus ließ sich die eigene Front und die der rechten Nachbargruppe weithin flankieren. Die Beseitigung des Stützpunktes war Vorbedingung zur Durchführung des Angriffs. Dichtes Waldgelände in etwa 1000 Meter Entfernung gestattete gedeckte Versammlung und Annäherung. So entbrennen heftige Kämpfe um diesen Stützpunkt. Am 18. März vormittags beginnt der Angriff gegen Wileity und dehnt sich bald weiter nach Norden aus. Die den Wald verlassende Infanterie kommt sofort in heftiges Artillerie- und Maschinengewehrfeuer und flutet bald in die Deckung des Waldes zurück. Weiter nördlich kommt der Angriff gar nicht zur Entwicklung. Gefangene der dort angesetzten Regimenter 85 und 88 sagten später aus, die Infanterie hätte Befehle erhalten, den Stützpunkt unbedingt zu nehmen. Zweimal stürmten sie vergeblich. Aber die Deutschen hielten unerschütterlich stand. Das deutsche Artilleriefeuer von unauffindbaren Batterien hätte ihnen ungeheure Verluste zugefügt. Am Abend des 19. März versucht der Russe nochmals den Angriff. Ohne Feuervorbereitung will er sich des Stützpunktes durch Handstreich bedächtigen. Fast unsichtbar in Schneemänteln schleichen im Dunkel der Nacht Abteilungen an die Hindernisse heran. Kreisförmig soll die Stellung umschlossen und überraschend angegriffen werden. Im blendenden Licht deutscher Scheinwerfer und Leuchtkugeln setzt rasendes Maschinengewehrfeuer ein. Unsere Artillerie legt Sperrfeuer hinter den Angreifer. Bald nach Mitternacht retten sich kümmerliche Reste der russischen Infanterie. Der Verteidiger des Stützpunktes hat vier Verwundete als Verlust zu melden. Noch einmal versucht der Feind sein Glück. Am Morgen des 22. März brechen starke Kräfte aus dem Walde vor. Eine Welle folgt der anderen. In kurzer Zeit feuern wohl 2000 Schützen. Unsere Artillerie leidet zunächst unter ungünstiger Beobachtung. Sie vermag den Angriff nicht aufzuhalten. Der Russe drückt trotz größter Verluste auf etwa 300 Meter vor. Dann klärt das Wetter sich auf. Unser Artilleriefeuer setzt ein und um 11 Uhr vormittags ist der Angriff abgeschmettert. Hunderte von Toten liegen vor der Stellung; Hunderte von Verwundeten kriechen zurück oder jammern vor den Hindernissen; . . . Hunderte werden später von den russischen Krankenträgern geholt. Der menschlich denkende Verteidiger erlaubt dem feindlichen Sanitätspersonal ungestörte Arbeit und die Bestattung der Gefallenen.
Weiter nördlich fanden um diese Zeit nur kleinere Kämpfe um vorgeschobene Postierungen statt. In einem etwa 800 bis 1500 Meter vor den Stellungen liegenden Hochwald wurden unsere Posten und Feldwachen von starken Kräften angegriffen und erhielten zur Vermeidung unnötiger Verluste den Befehl, auf die Hauptstellung zurückzugehen. Eine dieser Feldwachen wurde jedoch vom Gegner völlig eingeschlossen. Ihr schneidiger Führer wehrte sich eine Nacht und den folgenden Tag gegen erdrückende Übermacht. Dann gelang es ihm, sich bei Dunkelheit mit Hilfe der deutschen Artillerie an der Spitze seiner kleinen Schar fast ohne Verluste und sogar unter Mitnahme einiger russischer Gefangener nach rückwärts durchzuschlagen. Gefangene sagten aus, daß die Russen bei diesen Gefechten um die Feldwachen etwa zwei Bataillone verloren hätten. Noch eine kleine Schilderung sei eingefügt. Sie stellt keine besondere Heldentat dar, wirft aber ein schönes Schlaglicht auf den Geist deutscher Verteidigung, die nicht zufrieden ist am starren Festhalten, sondern jede Gelegenheit aufspürt, Teilerfolge auch in der Defensive zu erringen, Erfolge des Angreifers sofort wieder zu beseitigen. In diesem einmütigen Geist, der Führung und Truppe, Offizier und Mann zusammengeschweißt hat, liegt das Geheimnis deutscher Kraft in Angriff und Verteidigung. Hier setzt sich der Kommandeur eines lothringischen Infanterieregiments in den Sattel und wirft an der Spitze seiner Truppe durch kräftigen Gegenangriff den eingedrungenen Feind aus dem Graben. Dort geht ganz allein und selbständig ein einzelner Landsturmmann, ein biederer Handwerker im Frieden, mit Handgranaten vor und reinigt sein Grabenstück von eingebrochenen Russen.
Nördlich von Wileity liegt vor der Front das etwa ein Kilometer lange Dorf Welikoje-Selo. In der Mitte des Ortes stand seit langer Zeit eine Feldwache hinter ihrem Drahthindernis. Täglich schob sie einen Unteroffizierposten 500 Meter weit gegen den feindwärts gelegenen Dorfrand vor. Nachts wurde der Posten eingezogen. Am 19. März entwickelte der Feind starke Kräfte gegen Welikoje-Selo, die allerdings nicht zur Durchführung eines Angriffes kamen. Jedoch fand der Unteroffizier, als er am Morgen seinen altgewohnten Platz beziehen wollte den Feind darin, etwa eine Kompanie mit Maschinengewehren. Die Eigenmächtigkeit des Gegners durfte auf keinen Fall geduldet werden. Es war Ehrensache für den Unteroffizierposten und seine Kompanie. Einige Nächte später gehen von Süden deutsche Abteilungen im Schutze der Dunkelheit vor und beginnen zwei Uhr vormittags das Feuer auf die Russen. Eine andere Abteilung schiebt sich, in einer Bodenspalte gedeckt, an die russische Kompanie heran.
Unsere Artillerie legt plötzlich Sperrfeuer hinter den Ort; die nördliche Gruppe stürzt in langem Sprunge vor und überrennt den Feind. Nur wenige Russen entkommen in der Dunkelheit. Ein Offizier und 72 Mann werden gefangen, 30 Tote begraben. Mit Verlust von einem Mann rückt die Abteilung in die alte Stellung ein. Wiederholt fragt der russische Offizier, wann er erschossen würde. Man hatte ihm erzählt, die Deutschen erschössen alle russischen Offiziere. Man reichte ihm Tee. Er nahm ihn aber voller Mißtrauen nicht eher, bevor ein Landsturmmann davon getrunken hatte. Außer den 73 Gefangenen betrug die Beute dieser kleinen Unternehmung zwei Maschinengewehre, 80 Gewehre und 10000 Patronen. Die russische Heeresleitung, die zuvor über erfolgreiche russische Kämpfe und abgeschlagene deutsche Sturmangriffe auf diesem Dorf phantasievoll berichtet hatte, Kämpfe, die niemals stattgefunden hatten, schwieg seitdem über Welikoje-Selo.
Vor der unerschütterten Front der Armee Eichhorn hielt der erschöpfte Angreifer am 24. und 25. März verhältnismäßig Ruhe und sammelte Kraft zu neuer Anstrengung.
Im Abschnitt südlich des Dryswjatysees, am Flügel der Armee-Abteilung Scholtz - war es inzwischen auch zu lebhaften Kampfhandlungen gekommen. - Nachdem der Gegner an mehreren Stellen Ausfallgassen in seine Drahthindernisse gelegt hatte, begann am Morgen des 19. März der erwartete Angriff. In sechs bis acht mächtigen Wellen wälzten sich die russischen Massen heran. Über die im Feuer zusammenbrechende Welle türmte sich eine neue Angriffswoge. Der Wind, der diese Flut anschwellen ließ, war das russische Feuer in dem Rücken der eigenen Infanterie.
Alle Anstrengungen und Opfer sind vergeblich. Nur an zwei Stellen halten die Russen bei Tagesanbruch des 20. März geräumte deutsche Feldwachstellungen. Schon setzt der Gegenangriff ein. Ein Landwehrregiment nimmt in kühnem Gegenstoß seine verlorenen Grabenstücke wieder; eine Kavalleriebrigade stürmt mit dem Karabiner und nimmt den überlebenden Teil der eingedrungenen Russen, einen Offizier und 120 Mann, gefangen. Vor der Front liegen - gezählt - über tausend Leichen. Weitere russische Angriffe bis 22. März scheitern in gleicher Weise. In der Nacht zum 23. März rennt der Gegner viermal verzweifelt an. Zweimal gelangt er an die Hindernisse, jedesmal muß er unter verheerenden Verlusten weichen. Die genannte Kavalleriebrigade allein zählt 560 Leichen vor ihrer Stellung. Über Berge von Toten und Verwundeten hinweg stürmt der Russe am 25. März bald nach Mitternacht noch einmal. Jetzt soll es gelingen. Der Befehl erfordert den Durchbruch, ganz gleich, unter welchen Opfern. Kosaken hinter der Front bearbeiten die Infanterie mit der Peitsche. Nach nutzlosem Ansturm fluten die Reste der Regimenter zurück. Dann herrscht Ruhe und der Feind hat Gelegenheit, seine Verluste der Tage vom 19. bis 25. März festzustellen. Sie betragen mindestens 2800 Mann. Weiter nördlich, im Gelände der Bahn Wilna - Dünaburg und der Straße Kowno - Dünaburg, setzt in derselben Zeit eine gleich heftige und gleich erfolglose Offensive ein. Ohne Artillerievorbereitung will der Feind in der Nacht zum 22. März die dortige Front überrumpeln. Man läßt ihn herankommen bis an und in die Hindernisse; dann schlägt ihm vernichtendes Feuer entgegen. Die fliehende russische Infanterie findet in der Dunkelheit und Verwirrung die Hindernisgassen nicht und drängt sich wie eine Schafherde in dicken Haufen zusammen. Maschinengewehre verrichten unbarmherzig ihre fürchterliche Arbeit. Am Lawkessabach bleiben 600 Tote. Nun greift die russische Artillerie ein und bereitet einen neuen Angriff vor. Sechs Regimenter von drei verschiedenen Divisionen stürmen und werden aufgerieben. Der 23. März bringt eine Steigerung des russischen Artilleriefeuers. 11400 Schuß werden gezählt, darunter etwa 275 schwerster Kaliber. Umsonst! Die Infanterie kommt nur auf 400 Meter heran und muß bewegungslos liegen bleiben. Ein erneuter Überraschungsangriff schlägt gänzlich fehl und kostet wieder Hunderte von Toten. Wie zur Rache antwortet der Russe mit einem im Osten bisher unerhörten Trommelfeuer, aber es erfolgt kein Angriff mehr. Vom 26. März ab herrscht Ruhe beiderseits des Dryswjatysees.
Gegen die Einbruchstellen der Front der Armee Eichhorn setzt die russische Führung am 26. März noch einmal gleichzeitig mit aller Kraft den Hebel an. Nach heftigem Artilleriefeuer drücken auf der Frontlinie Spiagla - Südrand des Naroczsces vier Divisionen vor. Der unter furchtbaren Verlusten abgeschlagene Angriff wird am Nachmittag erneuert. Unter Zurücklassung von 3000 Toten weicht schließlich der Gegner in seine alten Stellungen zurück. Auch südlich Wileity scheitern mehrfach Angriffe.
Der 27. März läßt für den Verteidiger einen schönen Erfolg heranreifen. Es gelingt, durch kräftige Vorstöße dem Feinde größte Teile des uns am 21. März entrissenen Geländestreifens wieder abzunehmen. 1300 Mann mit 15 Offizieren bleiben in deutscher Hand. Heftige russische Gegenstöße, die sich auch am folgenden Tage wiederholen, bleiben erfolglos. Fünf starke Angriffe scheitern unter großen Verlusten. Gleiche Mißerfolge erleiden Massenangriffe der 45. Division und zweiten sibirischen Schützendivision südöstlich Muljarshe. Der 30. März bringt das Ende der russischen Offensive. Sie ist erstickt in "Blut und Sumpf".
Von etwa 14 Divisionen, die die Hauptlast des Kampfes zu tragen hatten, sind etwa zwei Divisionen vernichtet, acht Divisionen haben wohl die Hälfte ihres Besitzstandes verloren. Die blutigen Verluste in der Zeit vom 18. bis 30. März im Angriffsraum zwischen Beresina und Disna sind auf weit über 100000 Mann zu schätzen. Mit ungeheuren Opfern konnten die Russen keine Fuge lockern in der Hindenburgwand. Ein kleines Steinchen bröckelten sie heraus - dort bei Blizniki am Naroczsee.
Dieses Steinchen haben wir ersetzt und wieder eingefügt. Wir haben noch eine Mauer davor gebaut am 28. April. Die Arbeit brachte reichen Lohn: fünf Geschütze, zehn Minenwerfer, 28 Maschinengewehre, 5600 Gefangene mit 56 Offizieren.
Damit ist für uns die russische Märzoffensive 1916 beendet.

 

Berichte aus dem deutschen Großen Hauptquartier 1914-1918

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