Erinnerungen aus den Tagen der Kapitulation und Übergabe der Festung Maubeuge 

 

Veröffentlicht durch Wolffs Telegraphisches Büro am 6. Februar 1915

Nach heißem, opfervollem Ringen war es unseren braven Rheinländern und Westfalen vom VII. Reservekorps Anfang September gelungen, die starke Besatzung der Festung Maubeuge in zähem Vordringen aus dem Vorgelände zu vertreiben und auf die Verteidigung des Fortgürtels zu beschränken.
Nun galt es, Forts und Zwischengelände dem äußerst rührigen, tapferen Gegner zu entreißen. Schnelle Entscheidung war im Interesse der gesamten operativen Lage dringend geboten.
Die nun folgenden, hartnäckigen Kämpfe ergaben sich weniger aus dem Zustande der permanenten Anlagen der Festung. Es war vielmehr hier seitens der französischen Landesverteidigung, wohl mit Rücksicht auf die Sicherung Nordfrankreichs durch das zum mindesten neutrale Belgien, schon seit Jahren nur wenig für den modernen Ausbau von Maubeuge geschehen. Von den zahlreichen Forts und Zwischenwerken entsprach nur ein einziges einigermaßen den heutigen Anforderungen.
Anders verhielt es sich indessen mit der Herrichtung des Zwischengeländes. Nur fand unsere Infanterie nicht die gleichen Verhältnisse wie in den Kämpfen um Lüttich und Namur. Während dort für den Ausbau der Zwischenräume seitens der Belgier wenig oder fast gar nichts geschehen war, die wenigen Anlagen sich vielfach an zweckloser Stelle und meist im toten Winkel befanden, war der Gegner vor Maubeuge mit größter Sorgfalt und Sachkenntnis ans Werk gegangen. Es zeigte sich bereits in diesen Kämpfen die besonders in dem jetzigen Stadium des Krieges in Erscheinung getretene Befähigung der Franzosen, in der Verteidigung jeden sich bietenden Vorteil des Geländes auszunutzen und mit allen Mitteln der Feldbefestigung wertvolle Stützpunkte zu schaffen. Besonders geschickt hatte der Feind an vielen Punkten Scheinstellungen angelegt, welche anfangs oft auch mit der wertvollen Munition unserer großen Brummer, der 42 cm - Geschütze, sowie der österreichischen Motorbatterien beschossen wurden, bis es der Aufklärung der unermüdlichen Fliegeroffiziere gelungen war, die richtigen Ziele festzustellen.
Das Feuer, welches in diesen ersten Septembertagen die feindlichen Forts überschüttete, hatte eine gewaltige Wirkung. Es wurde nach der Einnahme der Festung erkannt, daß die Zerstörung an manchen Stellen der Beschießung der Forts von Lüttich und Namur in keiner Weise nachstand. Dort, wo unsere 42 cm-Geschosse einschlugen, war alles Mauerwerk nur noch ein wüster Trümmerhaufen, und es schien, als hätte ein Erdbeben mit elementarer Gewalt den ganzen Bau durcheinandergeschüttelt.
Gleichzeitig mit der Beschießung der Forts, sowie der Zwischenräume ging auch der Angriff unserer Infanterie vorwärts, freilich an manchen Stellen nur mit großen Verlusten. Wenn dann nach einem geglückten Angriff oder nach Abwehr eines feindlichen Ausfalls Verwundeten-Transporte unserer Braven nach den auf belgischem Gebiet liegenden Sammelstellen gebracht wurden sah man häufig die in freundliche Worte über die fremden Eindringlinge zuraunten:
"Habt Ihr schon gehört, daß eine starke englische Armee von Antwerpen im Anmarsch ist" oder "Man spricht von enormen Verlusten der Deutschen!" "Heute nacht haben die Franzosen Hunderte von Gefangenen gemacht." "Die Munition geht den Prussiens aus!"
Dann folgten feindliche Blicke, und wer ihre stumme Sprache verstand, der merkte nur zu gut, daß es wahr sei, womit die deutsche Führung stets rechnen mußte. Hier ging es um hohen Einsatz! Siegten wir, dann war einer der wichtigsten Stützpunkte, welcher gleichzeitig einen Rückhalt für die Belgier und die Verbindung mit Antwerpen bildete, den Franzosen entrissen. Gelang es indessen dem, wie sich später herausstellte, weit um das Doppelte überlegenen Gegner, die Deutschen zu schlagen, dann Stand mit ziemlicher Sicherheit zu erwarten, daß im Rücken der Belagerer ganz Belgien, das damals noch keineswegs entwaffnet war, sich erheben und der Volkskrieg in hellen Flammen entbrennen werde.
Somit war vor Maubeuge eine derjenigen Lagen eingetreten , in denen nur der starke Wille zum Siege den Erfolg sichert, und es schien, als ob dieser Gedanke jeden einzelnen, vom höchsten Führer bis zum jüngsten Soldaten, beseelte.
Der Befehlshaber der deutschen Einschließungsarmee, General der Infanterie von Zwehl, befand sich zu Beginn der Belagerung mit seinem Stabe in dem belgischen Städtchen Binche. Seine Königliche Hoheit der Prinz Friedrich Leopold von Preußen, Allerhöchst von Seiner Majestät beauftragt, über den Gang der Belagerung zu berichten, hatte in dem nahe gelegenen Mons Quartier genommen.
Angesichts der Tag und Nacht andauernden Beschießung, vor allem aus unseren 42 cm-Geschützen, sowie den Motorbatterien der Österreicher, gelang es, das wichtige Fort de Boussois auf der Ostfront der Festung zum Schweigen zu bringen. Es wurde nach heftigen Kämpfen, in denen sich vor allem auch unsere Minenwerfer mit großem Erfolge betätigten, durch unsere Infanterie besetzt und bald wehte die deutsche Fahne von seinen Wällen. Von diesem Augenblick an sollte sich das Schicksal der Festung schnell erfüllen.
Das Generalkommando hatte nach dem Fall des Forts de Boussois seinen Gefechtsstand nach der Ferme Vent de Bise, einem Gehöft etwa 3 Kilometer östlich des eroberten Forts, verlegt. Der Kommandierende General hatte diesen Punkt mit Rücksicht auf schnellste Nachrichtenverbindung zu seinen beiden Divisionen gewählt. Daß der Standort zeitweise noch im heftigen Feuer der französischen Artillerie lag, konnte an diesem Entschluß nichts ändern. Auch bei den Kämpfen vor Maubeuge trat, wie so häufig, in Erscheinung, daß die Einwohner den Nachrichtendienst mit den französischen Truppen auf das wirksamste unterstützten. So wurden zahlreiche Fernsprechverbindungen aufgefunden, welche in die Ortschaften hinter der Front der Deutschen führten und noch drei Tage vor der Einnahme der Festung wurde eine Frau standrechtlich erschossen, welche dem Feinde durch eine im Keller liegende Telephonleitung Mitteilungen über die Stellungen und Beobachtungsstände unserer Artillerie, sowie den Aufenthalt höherer Stäbe machte. Diese Erfahrungen hatten zur Folge, daß beim Eintreffen des Generalkommandos bei Vent de Bise sämtliche zu dem Gehöft gehörenden Gebäude von den noch dort befindlichen Einwohnern gesäubert wurden.
Der Stab des Kommandierenden Generals Exzellenz von Zwehl hatte am 7. September in einem an das Gehöft Vent de Bise angrenzenden Obstgarten Aufstellung genommen. Aus dem Wohnhause hatte man in den Garten Stühle und Tische gebracht. Über letzteren waren große Karten mit der genauen Eintragung der jeweiligen Kampfeshandlung ausgebreitet. Über einer dieser Karten verfolgte auch Seine Königliche Hoheit der Prinz Friedrich Leopold von Preußen mit gespannter Aufmerksamkeit den Gang der Ereignisse.
Es war kurz nach 2 Uhr nachmittags. Soeben waren mehrere Ordonnanzoffiziere mit Befehlen an beide Divisionen und den unermüdlichen, leider kurz nachher bei Reims zu früh gefallenen Kommandeur der Artillerie, Generalleutnant Steinmetz, abgefertigt worden, als ein Meldereiter, von weitem winkend, dem Gehöft zugaloppierte. Er meldete, daß er vom Generalleutnant von Unger, dem Führer der 14. Reserve-Division, vorausgesandt sei und dieser in kurzer Zeit mit einem Parlamentär von den Vorposten eintreffen werde. Bald darauf sah man den General mit einem französischen Offizier, dem man die Augen verbunden hatte, dem Gehöft zuschreiten.
Es folgten nun Momente höchster Spannung. Nachdem die Binde von den Augen des Parlamentärs entfernt worden war, meldete sich dieser als der Hauptmann im Generalstabe Grenier, der im Auftrage des Kommandanten, Generals Fournier an den Oberbefehlshaber der deutschen Truppen gesandt sei. General Fournier bitte um einen Waffenstillstand von 24 Stunden, um die zahlreichen vor der Front liegenden Gefallenen zu begraben und wegen der Übergabe der Festung zu verhandeln. Diese Meldung wurde in fließendem Deutsch gesprochen. Wie er später angab, hatte Hauptmann Grenier längere Zeit in Deutschland gelebt und dort Deutsch gelernt.
Nachdem der Offizier seine Meldung beendet hatte, erwiderte der Kommandierende General, daß er die tapfere Verteidigung der Festung zwar in vollem Maße anerkenne, einen so langen Waffenstillstand zu bewilligen sei ihm indessen unmöglich. Wenn es wirklich die Absicht des Kommandanten sei, die Festung zu übergeben, so werde man sich viel schneller einigen. Der Parlamentär möge nach vier Stunden mit den nötigen Vollmachten wiederkommen. Diese müßten im wesentlichen enthalten, daß die Festung mit sämtlichen Werken und allem Kriegsgerät übergeben werde und die Besatzung kriegsgefangen sei. "So hatten sie es sich doch wohl auch gedacht?" fragte zum Schluß der deutsche Führer und sagte, als der Franzose dies bejahte: "Nun, dazu brauchen wir ja dann nicht 24 Stunden Waffenstillstand. Auch kann ich die Beschießung der Festung bis zu Ihrer Rückkehr nicht einstellen, denn wir haben keine Zeit zu verlieren!"
Nachdem der Hauptmann die Frage nach irgendwelchen sonstigen Wünschen verneint hatte, wurde er entlassen und durch Generalleutnant von Unger wieder zu den Vorposten begleitet.
Der Kampf wurde in den nun folgenden Stunden mit unverminderter Heftigkeit fortgesetzt. An dem klaren, blauen Himmel des heißen Septembernachmittags sah man im ganzen Umkreis, vor allem gegenüber der Nord- und Ostfront der Festung, die weißen Wölkchen der Schrapnells, kenntlich bei den Franzofen an den merkwürdig großen Sprenghöhen, sich entladen. Dazwischen tönte das pfeifende Geheul der sich aufwärts Schraubenden schweren Granaten, verbunden mit den krachenden, ohrenbetäubenden Detonationen der einschlagenden Geschosse. Die Brennpunkte des Kampfes bezeichneten rings im weiten Umkreis in Flammen stehende Gehöfte und Strohschober, während eine tiefschwarze Riesenwolke über der Festung Maubeuge und der in Brand geschossenen Arbeitervorstadt lagerte.
Wohl manchen mögen in diesen Nachmittagsstunden wachsende Zweifel erfüllt haben, ob der Parlamentär nach Ablauf der gegebenen Zeit wiederkommen werde, ob nicht noch lange Tage verlustreicher Kämpfe folgen und die Franzosen erst nach Einnahme sämtlicher Forts die Festung übergeben würden. Diese Zweifel mußten immer begründeter erscheinen, als nach Verlauf der festgesetzten vier Stunden noch keine Nachricht aus der Festung gekommen war.
Allmählich war die Sonne wie ein rotglühender Ball über einem brennenden Dorf im Westen gesunken, und der Mond stand mit weißleuchtender Sichel über den Trümmern des zerschossenen Forts de Boussois. Sein Licht ließ die Umrisse aller Gegenstände in der klaren Abendluft in merkwürdig scharfen Linien hervortreten. So auch einen Erdhügel dicht am Gehöft Vent de Bise, den die braven 9er am Tage vorher gefallenen Kameraden errichtet hatten. Ein schlichtes Holzkreuz, darauf mit einfacher Schrift die Namen. An dem Kreuz ein Helm befestigt. Auf dem Hügel Zwei rote Geschoßhüllen und in ihnen von treuer Hand der letzte Gruß: Spätsommerblumen!
Hörten sie es wohl, die Helden, welche man dort zur letzten Ruhe gebettet hatte, in jener anderen Welt, wo die große Armee sich sammelt, das Brausen, welches in dieser Abendstunde mit einem Male fern von der Festung her durch die stille Luft über das weite Schlachtfeld zog Erst leise, wie die einsetzende Flut, dann weiter dringend, lauter anschwellend und schließlich wie die unaufhaltsame Brandung alle Dämme durchbrechend in einem einzigen, jauchzenden Siegesruf. Allen, welche diesen Augenblick erleben durften, wird das Hurra unserer Braven unvergeßlich bleiben, mit dem sie die Rückkehr des Parlamentärs aus der Festung und die endgültige Kapitulation von Maubeuge begrüßten.
Atemlose, feierliche Stille herrschte rings im Kreise, als der Kommandierende General das an ihn gerichtete Schreiben des Generals Fournier verlas, welches Kapitän Grenier überreichte. Es enthielt das Einverständnis mit den ihm gestellten Bedingungen und ermächtigte den Überbringer, sofort wegen aller Einzelheiten in Verhandlung zu treten. Man kann den Eindruck schwer beschreiben, als jetzt erst die wirkliche Stärke des Gegners von 45 000 Mann bekannt wurde. Unsere braven Truppen hatten in diesen Septembertagen in schwierigster Lage gegen einen mehr als doppelt so starken Gegner gekämpft und den Sieg über ihn errungen.
Nach kurzer Beratung des Kommandierenden Generals mit dem Chef des Generalstabes, Oberstleutnant Hase, wurde dem Kapitän Grenier das am Nachmittage bereits aufgesetzte Protokoll der Übergabe vorgelesen.
Inzwischen war es völlig dunkel geworden. Nur im weiten Umkreise der Festung beleuchteten die noch brennenden Gebäude die Landschaft mit taghellem Schein, während sich im Westen über Maubeuge, wie von einem gewaltigen Fanal des Sieges, der Himmel rötete.
Über das ihm vorgelegte Schreiben gebeugt, saß der Parlamentär an einem der Tische im Garten von Vent de Bise. Beim flackernden Licht von Kerzen, welche man in leere Burgunderflaschen gesteckt hatte, las er die Bedingungen, welche noch am Abend unterzeichnet werden sollten. Einmal schüttelte er mit wehmütigem Lächeln den Kopf. Es betraf die Stelle, an welcher stand, daß mit allem Kriegsgerät auch sämtliche Feldzeichen dem Sieger übergeben werden sollten. Befragt, ob er Zweifel habe, bejahte er dieses. Fahnen oder Standarten seien nicht mehr vorhanden. Man habe sie entsprechend der Instruktion vor der Übergabe der Festung verbrannt.
Nach beiderseitigem Übereinkommen sollte am nächsten Nachmittag der Ausmarsch der gesamten Garnison nach den für den Abtransport bestimmten Bahnstationen erfolgen. Noch während der Nacht sollten die Truppen entwaffnet, sowie sämtliche Forts übergeben und von den Deutschen besetzt werden. Dieses alles vollzog sich ohne Zwischenfall.
Es war am Nachmittage des 8. September um 2 Uhr, als der Kommandierende General, Exzellenz von Zwehl, mit seinem Stabe an der Porte de Mons von Maubeuge den Kommandanten der Festung, General Fournier, empfing. Dieser war begleitet von seinem Generalstabsoffizier, Hauptmann Grenier, und dem ersten Artillerieoffizier vom Platz.
Nachdem der deutsche Führer dem Kommandanten in Anerkennung der tapferen Verteidigung der Stadt seinen Degen zurückgegeben hatte, begann vor den Augen Seiner Königlichen Hoheit des Prinzen Friedrich Leopold von Preußen, sowie Seiner Hoheit des Prinzen von Anhalt der Ausmarsch der Besatzung. Zu beiden Seiten der nach Jeumont führenden Straße waren die deutschen Truppen beider Divisionen, sowie die Mannschaften der österreichischen Motorbatterien aufgestellt. Bezeichnend für die treue Kameradschaft mit unseren Verbündeten, welche in diesen Tagen gemeinsamer, schwerer Kämpfe bei jeder Gelegenheit hervortrat, war der laute Jubel, mit dem die Österreicher jetzt bei ihrem Eintreffen von unseren Leuten begrüßt wurden.
Es war wohl kein Zufall, daß die ersten französischen Truppenverbände, welche den Ausmarsch aus der Festung eröffneten, von allen den besten Eindruck machten. Es schien vielmehr, daß hier eine besondere Auswahl getroffen war. Haltung, Ordnung und Marschtempo zeigten bei diesen Leuten keine Spuren der vorausgegangenen großen Anstrengungen und Entbehrungen. Auch erschienen keineswegs , wie der Kommandant gleichsam als Entschuldigung gesagt hatte, vorwiegend Leute älterer Jahrgänge, sondern junge, kräftige Gestalten, von meist gutem Wuchs.
Es war den Offizieren gestattet worden, nach Belieben entweder mit der Truppe zu marschieren oder Wagen zu benutzen. Von dieser Vergünstigung machten indessen sah nur die Verwundeten Gebrauch. Die meisten blieben an der Spitze ihrer Leute und grüßten beim Vorbeimarsch den Kommandanten, der mit seinem Stabe seitwärts von den deutschen Offizieren stand, in strammer Haltung.
Nachdem der Ausmarsch etwa eine Stunde gedauert hatte, änderte sich allmählich das Bild. Es traten größere pausen ein und es erschienen meist keine einheitlichen Truppenteile. Die Leute kamen vielfach einzeln, oft auch in kleineren Trupps oder in zufällig zusammengestellten Verbänden vorüber. So bot der lange, acht Stunden dauernde Ausmarsch ein Schauspiel, wie es sich bunter und eigenartiger nicht beschreiben läßt. Es war wie ein Strom, der immer von neuem, scheinbar unaufhörlich, aus der engen Porte de Mons über die beiden Zugbrücken der alten Stadtumwallung herausflutete und in dem nach den ersten Stunden der einzelne gar nicht mehr ausfiel. Es war nur noch das bunte Farbengemisch von Rot, Blau und Schwarz, welches in immer neuer Zusammenstellung, wie von einem Maler auf die Leinwand geworfen, an den Augen der Deutschen vorüberzog.
In dieser Fülle der Eindrücke bleibt ein Bild von unvergeßlicher Wirkung allen denen gewiß unauslöschlich in der Erinnerung haften, welche es miterleben durften.
Bereits zwei Stunden waren die gefangenen Franzosen durch die zu beiden Seiten der Straße aufgestellten Linien unserer Truppen marschiert. Alles vollzog sich ruhig und würdig. Wenn auch unseren braven Leuten der stolz über so ungezählte Gefangene aus den Augen leuchtete, sie achteten doch in dem einzelnen geschlagenen Franzosen immer noch den Soldaten und enthielten sich jedes verletzenden Ausdrucks. Da zog es mit einem Male wie lauter Unwille durch die Reihe unserer Braven. Verwünschungen wurden laut und wie umgewandelt sahen sie alle mit haßerfüllten Blicken nach dem Zuge gelb gekleideter Gefangener, der sich jetzt aus dem Stadttore auf sie zubewegte.
Erst jetzt erfuhr man, daß sich auch noch Engländer in der Festung befanden. Es waren etwa 120 Mann, meist Versprengte und Zurückgebliebene, welche sich seit der Schlacht bei Mons im August in Maubeuge gesammelt hatten.
War die Haltung der Franzosen ernst und militärisch, so zeigte sich das gerade Gegenteil bei den Engländern. Im Gegensatz zu dem elastischen Schritt der ersteren kamen sie ohne Ordnung, schleppenden Ganges, mit einem Ausdruck, der im höchsten Grade unvorteilhaft auffiel, laut sprechend vorüber. Wie nachher bekannt wurde, hatten sie sich vor dem Ausmarsch über einen Teil der Branntwein-Vorräte in der Festung hergemacht, der seine Wirkung nicht verfehlte. Nachdem alle schon längst vorübergezogen waren, folgte noch eine besonders eindrucksvolle Gruppe. Zwei Schotten, welche sich untergefaßt hatten schwankten taumelnd vorüber. Plötzlich machte sich der eine von seinem Begleiter los und versuchte, laut rufend, einem unserer braven Westfalen die Hand zu schütteln. Dieser würdigte ihn indessen keines Blickes, sondern drehte ihm in stummer Verachtung den Rücken. Der bemerkenswerte Vorgang fand seinen Abschluß, indem beide Schotten in nachdrücklicher Weise zu ihren Landsleuten gebracht wurden.
So endete der Vorbeimarsch dieser englischen Kulturträger , und es folgten weiter in scheinbar endloser Reihe Scharen auf Scharen gefangener Franzosen. Viele Verwundete, zum Teil an Stöcken hinkend oder von Kameraden gestützt. Viele auch auf Wagen und kleinen zweirädrigen Karren. Jeder hatte versucht, an Lebensmitteln und Gepäck So viel als möglich fortzutragen, teils wurde es durch Fuhrwerk allerart befördert. Weiter folgten in buntem Zuge, mit den Truppen gemischt, Trommler und Spielleute, Verpflegungsbeamte und Krankenpfleger, Trainsoldaten und Sanitätsmannschaften. Viele der Offiziere, welche ihre Degen noch nicht abgegeben hatten, legten sie jetzt im Vorbeigehen vor dem deutschen Führer hin, zu dessen Füßen die im Laufe des Abends sich immer mehr steigende Zahl von Offizierdegen, Trommeln, Trompeten und Kriegsgerät allerart Zeugnis ablegen konnte von dem Erfolge, der hier erkämpft war.
Bot schon der Ausmarsch dieser Truppenmassen als Gesamteindruck ein Bild von ergreifender, unvergeßlicher Wirkung, so bildeten in diesem großen Rahmen kleinere Episoden, wie sie der Stift eines Zeichners jederzeit hätte festhalten können, unvergleichlich packende Momente. Ein Wagen, hochaufgetürmt mit Gepäck, gezogen von einem Pferd, das ein Soldat führte. Auf dem Gepäck gelagert mehrere leichtverwundete Offiziere, deren Blicke unverwandt nach der Festung gerichtet waren, als ob alles andere, die ganze Umgebung nicht für sie bestehe. Wer ihren Augen folgte, bemerkte, auf dem Wall stehend, mehrere Frauen, anscheinend Angehörige der Offiziere, welche ihnen bis an die Stadtumwallung das Geleit gegeben hatten. Immer von neuem zurückschauend und mit Tüchern winkend, erwiderten die Offiziere den Gruß der Ihrigen, bis der Wagen in der Ferne den Blicken entschwand, hinaus in die weite, unbekannte Zukunft.
Ein anderes Bild von noch tieferem Eindruck: Hoch aufgerichtet im Sattel sitzend, ein Oberst an der Spitze seines Regiments. Seine Züge tragen Spuren überstandener Kämpfe und Entbehrungen, zeigen den ganzen Ernst der Ergebung in das unabänderliche Schicksal. Ein Offizier des Generalkommandos tritt auf ihn zu und bedeutet ihm, daß alle Offiziere fahren oder zu Fuß gehen, Pferde abgegeben werden müssen. Der Oberst reitet seitwärts heraus. Ohne seinen Ausdruck zu verändern, sitzt er ab, schnallt gelassen seine Packtaschen vom Sattel und nimmt seinen Degen. Dann sieht er noch einmal seinen Araberschimmel mit einem langen Blick an und klopft ihn auf den Hals. Zwei Freunde nehmen voneinander Abschied fürs Leben:
"Es war ein treues Tier, ich habe es zugeritten und aus Afrika mitgebracht," sagte er, im Weitergehen seinen Degen abgebend. Dann folgte er, ohne sich umzusehen, seinem Regiment.
So geht der Zug weiter, ziehen vorüber Hunderte, Tausende, zu Fuß, zu Wagen, Verwundete, Unverwundete, einzelne Trupps, ganze Kompagnien, Batterien, Bataillone, Regimenter in scheinbar endloser Reihe, bis erst nach 10 Uhr abends die letzten Gefangenen vorübergezogen sind, und der Schleier der Nacht sich über den bedeutsamen Tag senkt, der von nun an in unvergänglicher Erinnerung der Kriegsgeschichte angehört.

 

Berichte aus dem deutschen Großen Hauptquartier 1914-1918

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