Die
Regierungserklärung des Kabinetts Boselli
Paolo
Boselli
Rom,
29. Juni. (Priv.-Tel.)
In der Kammer hat gestern Boselli die Erklärung der neuen Regierung
verlesen. Sie beginnt mit folgenden Sätzen: "Die Zeit gehört
nicht dem Programm, sondern der Tat. Das Ziel des Kabinetts bezweckt
vor allem in dieser wichtigen Stunde die großherzige Unternehmung,
durch die die Rechte der Nationen und die Rechte der Zivilisation
den Sieg erwarten und erlangen werden. Hierfür verfolgen wir das
Werk enger und beharrlicher Solidarität mit unseren Verbündeten
bis zum endlichen Triumph. Wir werden so fortfahren, hinsichtlich
der auswärtigen Politik entschlossen auf dem Wege weiter zu gehen,
der bereits mehrere Male eine sehr weitgehende Billigung des
Parlaments und des Landes gefunden hat. Wir werden unsere
energischen Anstrengungen der intensiveren Gestaltung und immer
engeren Vereinheitlichung der militärischen Operationen auf den
verschiedenen Schlachtfeldern Europas widmen, in einem vollkommenen
Einverständnis mit unseren Verbündeten, in der Aktion der
wirtschaftlichen Verteidigung gegen den Feind. Wir werden den Gang
unserer Finanzen aufrecht erhalten in der vorsichtigen und starken
Weise, die bis jetzt so gute Ergebnisse gezeitigt hat. Wir werden
mit äußerster Kraft handeln mit allem, was dazu dienen kann, um
unseren Forderungen und denen unserer Verbündeten mehr Nachdruck zu
verleihen in allem, was die glühenden und mächtigen Gefühle des
Landes fordern, in allem was den Beispielen von Glauben und
Tapferkeit unserer wunderbaren Soldaten und unserer tapferen
Seeleute entspricht. Um dieses Ziel der intensiveren Gestaltung des
Krieges unter der Mitarbeit des Volkes zu erreichen, haben wir Männer
der verschiedenen politischen Anschauungen vereinigt, die aber nur
eine einzige Seele, einen einzigen Willen haben, wenn es sich um die
höchsten Interessen der Nation handelt, die allen anderen in der
jetzigen Stunde vorgehen müssen. Die Heftigkeit der politischen Kämpfe
legt sich, wenn sich die Stimme des unsterblichen Vaterlandes
erhebt. Jedermann muß sich heute zusammenschließen zur Eintracht,
geleitet von unseren Überlieferungen, erleuchtet durch die Vision
der Zukunft, die dem in den durch die Gründe seiner Existenz selbst
und durch die Sprache gezeichneten Grenzen wieder hergestellten
Italien ein neues und glühenderes bürgerliches Leben und eine größere
Arbeitskraft geben wird. Wenn dieses Ziel erreicht sein wird, wird
jeder seinen Platz in der politischen Arena wieder einnehmen. Die
volle nationale Eintracht, die in das Land, in das Parlament und in
die Regierung Vertrauen setzt, muß gefestigt und besiegelt werden
durch alle Handlungen der öffentlichen Verwaltung. Alle Italiener
sind vor uns gleich. Alle Parteien kämpfen und sterben in gleicher
Weise für das Vaterland. Alle diejenigen, die in diesem große
Kampfe ihre Herzen und ihre Gedanken dem Werke des nationalen Sieges
weihen, sind von der vaterländischen Eintracht geleitet, aber denen
gegenüber, die versuchen sollten, das Vertrauen des italienischen
Volkes herabzumindern, indem sie ihre heiligen Pflichten gegen das
Vaterland vergessen, muß sich die öffentliche Autorität wachsam
und unbeugsam zeigen."
Die Erklärung begründet sodann die Berufung von Politikern aller
Parteien in das Kabinett und setzt die Ausgaben der neugeschaffenen
Ministerien auseinander. Sie schließt wie folgt: "Alle Klassen
der Bürger wetteifern an Tapferkeit und Opfermut. Unsere Kämpfer
sehen unter sich den König, der alle Gefahren verachtend ein neues
Beispiel der Tugenden seines Hauses gibt, indem er sein ganzes Herz
Italien weiht, und der den Soldaten aller Teile seines Landes den
Gruß Roms überbringt. Das von meinem erlauchten Vorgänger und
Freunde präsidierte Ministerium hatte das Verdienst, den Krieg zu
erklären, den die Seele des wiedererweckten Vaterlandes,
idealisiert in der Erinnerung an bessere Jahrhunderte, mit einer glühenden
und kühnen Begeisterung forderte, den Krieg, den das ganze
italienische Volk mit unbezähmbarer Kraft und Freudigkeit unterstützt.
Dieses Volk hat durch seine so verschiedenen Tugenden, durch die
Beweglichkeit seines wahrhaft lateinischen Geistes die schlimmsten
Strapazen überwunden, die schwersten Opfer ertragen, und es bewahrt
das Bewußtsein, daß die strengste Disziplin eine wesentliche
Bedingung ist für das Heil der Nation und die Freiheit der Bürger
selbst. Unser Land ist bewundernswert, wir wollen es mit Rührung
und Stolz sagen. Den verbrecherischen Unternehmungen des Feindes
antwortet es mit Verachtung. Das klassische Venedig, gewohnt, sich
ganz der Sache der italienischen Wiedererhebung hinzugeben,
antwortet stolz mit den anderen Städten auf die letzten
Luftangriffe, indem es den gleichen Mut zeigt wie die Bewohner der
Gegenden, die heute geweiht werden durch die italienische Tapferkeit
und die alles verloren haben außer ihrem vaterländischen Ideal.
Das Vaterland wird sich dankbar zu erweisen wissen, indem es sich an
die schmerzlichen Tage dieser Städte und Gegenden erinnert, die
aufs schwerste heimgesucht werden durch die Wut des Feindes. Möge
aus unserer Eintracht und aus der Eintracht der Nation sich eine
bewundernde Ehrung für unsere Kämpfer ergeben, die zu Wasser und
zu Lande heldenmütige Blätter der Geschichte schreiben und die
alten epischen Taten wieder aufleben lassen. Nicht allein der
heftige und mächtige Ansturm des Feindes hat sich schnell gebrochen
an den Flügeln unserer Armeen, sondern er wurde auch bald
vollkommen aufgehalten und energisch zurückgeschlagen. Jetzt nehmen
unsere Soldaten, indem sie den Widerstand des Feindes besiegen, die
Täler wieder und die rauhen Gipfel, die sie beherrschen. Sie rücken
stürmisch vor und werden immer weiter vordringen, die Soldaten der
nationalen Erlösung. Die italienische Fahne wird überall glänzen,
wo sich italienische Gebiete befinden, jetzt und immer."
Die Kammer nahm jeden Satz der Erklärung mit lebhaftem Beifall auf.
Der Schatzminister Carcano brachte sodann eine Vorlage ein über die
provisorischen Budgetzwölftel bis zum 31. Dezember. Nach der
Sitzung verlas Boselli im Senat dieselbe Erklärung.
Mailand 29. Juni. (Priv.-Tel.)
Bosellis inneres und äußeres Programm erscheint zwar
umfassend, jedoch anderseits in allgemeinen und unbestimmten Ausdrücken
gehalten. Es fehlt jede positive Angabe über die Haltung der
Regierung zu den aktuellen Fragen der äußeren Politik, namentlich
über das Verhältnis zu Deutschland und das Vorgehen der Entente in
Griechenland und die Ziele Italiens in der Levante. Die beiden
letzten Punkte wurden übrigens in der Debatte von dem
Linksliberalen Molina berührt, der sagte, Italien könne sich nicht
mit dem endgültigen Besitze
der Zwölf Inseln und einer Konzession für die Adaliabahn begnügen,
es müsse vielmehr eine Beteiligung an der Aufteilung der
asiatischen Türkei fordern. Die Linie, die Bosellis Rede sonst
enthielt, unterschied sich nicht im mindesten von Salandras
Programm, so daß der allgemein bestehende Eindruck, Boselli werde
die Politik des Kabinetts Salandra fortsetzen, deren wichtigste Träger
er ja übernommen hat, durch die Programmrede verstärkt wird.
Unmittelbar nach Boselli hielt Giacomo Ferri eine Rede, die mit
heftigen Anklagen eine der in letzter Zeit in der Kammer häufigen
Sturmszenen hervorrief. Ferri griff nachträglich das Kabinett
Salandra und dessen Chef wegen der bekannten Äußerung an, die
Tiroler Front hätte bei besserer Anlage den Österreichern
widerstanden. Wenn man solche Anklagen vorbringe, müsse man den Mut
besitzen, die schuldigen Generäle zu erschießen. Als die Kammer Lärm
schlug, fuhr Ferri fort: "Wir sind die wahren Patrioten, nicht
ihr, deren Söhne Drückeberger sind." Ein großer Tumult
folgte dieser Beleidigung. Ferri schnitt auch das peinliche Thema
an, wie sich der Katholik Meda als königlich italienischer Minister
dazu stelle, wenn der Papst die Zulassung zur Friedenskonferenz
verlange.
Die Presse ist im allgemeinen mit dem Programm zufrieden. 2)
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