Sir
Edward Grey über Englands Friedensbedingungen
Rotterdam,
15. Mai.
In einer Unterredung mit dem Londoner Vertreter von "Chicago
Daily News" am 10. Mai erklärte Staatssekretär Grey u.
a.:
Die preußische Tyrannei in Westeuropa mit Einschluß Englands
wird nicht standhalten. Was Preußen beabsichtigt, ist die preußische
Oberherrschaft. Es beabsichtigt ein von Preußen geformtes und beherrschtes
Europa. Wir bekämpfen auch die deutsche Idee von der Nützlichkeit,
ja von der Erwünschtheit eines immer wiederkehrenden Krieges. Wir
haben den Glauben an internationale Konferenzen.
Nachdem Grey die Weigerung Deutschlands, einer Konferenz über die
österreichischen Forderungen an Serbien zuzustimmen, besprochen hatte,
fuhr er fort: Die Konferenz, die wir vorschlugen, oder das vom Zaren vorgeschlagene
Haager Schiedsgericht hätten den Streit in einer Woche etwa beendet,
und all dieses Unglück wäre abgewendet worden.
Auf die Frage des Korrespondenten, ob Grey glaube, daß die Neutralen
zum Frieden verhelfen könnten, antwortete Grey: Wenn die Leute mit
friedlichen Ratschlägen zu mir kommen, sollen sie mir sagen, welche
Art Frieden sie im Sinne haben. Sie sollen mich wissen lassen, auf welcher
Seite sie stehen. Friedliche Ratschläge, die rein abstrakt sind und
keinen Unterschied zu machen versuchen zwischen Recht und Unrecht des
Krieges, sind ohne Wirkung und unerheblich.
Mit Nachdruck bestritt dann Grey, daß vor dem Kriege irgendeine
Koalition gegen Deutschland bestand oder daß ihm der Krieg aufgezwungen
wurde.
Grey fuhr fort: Auf alles dies sagen wir zu Deutschland: Erkennet den
Grundsatz an, den diejenigen, die die Freiheit lieben, überall betonen,
gebet den Nationalitäten wirkliche Freiheit, nicht eine sogenannte
Freiheit, die den unterworfenen Völkern von der preußischen
Tyrannei als Almosen zugeteilt wird, und leistet Ersatz für das zugefügte
Unrecht, soweit er geleistet werden kann. Grey fuhr fort, daß die
Grundlage der britischen Annäherungen in den letzten Jahren darin
bestand, gute Beziehungen zu sichern und den Streitigkeiten der anderen
Mächte ein Ende zu setzen. Das Abkommen mit Frankreich und dann mit
Rußland geschah nicht in feindseliger Absicht gegen Deutschland
oder irgendeine andere Macht, sondern nur in der Absicht, einem dauernden
Frieden eine Bahn zu schaffen.
In bezug auf die deutsche Behauptung, das einzige wirkliche Hindernis
des Friedens sei England, erklärte Grey: Niemand wünscht den
Frieden mehr als wir.
Als der Vertreter des Blattes fragte, ob Grey bemerkt habe, daß
der Reichskanzler behaupte, daß England das geeinigte und freie
Deutschland zu zerstören wünsche, erwiderte Grey: Wir waren
niemals für eine solche Tollheit eingenommen. Wir würden uns
freuen, das deutsche Volk frei zu sehen, wie wir frei zu sein wünschen
und wie wir auch wünschen, daß die anderen Nationen in Europa
frei in der Welt seien. Wir glauben, daß, wenn einmal die Träume
von der Weltherrschaft, die der Pangermanismus großgezogen hat,
zunichte gemacht sind, das deutsche Volk darauf bestehen wird, seine Regierung
zu beaufsichtigen, und darin liegt die Hoffnung, die Freiheit und die
nationale Unabhängigkeit Europas zu schaffen. Denn die deutsche Demokratie
wird keine Kriegspläne schmieden, wie der preußische Militarismus
Kriege geschmiedet hat, die zu einem in der Zukunft gewählten Zeitpunkt
stattfinden sollten. Wenn die Menschheit aus diesem Kriege nicht lernt,
Kriege zu vermeiden, so wird der Kampf vergeblich gewesen sein. 1) |